„3 Stunden Endspurt, oder: Im 2. Anlauf nach Sparta“

Ein Erfahrungsbericht von Wolfgang Lenzen

Beim 99er „Spartathlon“ war ich nach knapp 30 Stunden an der Tankstelle Elda ausgestiegen. Bis dahin hatte ich zwar alle Cutoff-points im Zeitlimit erreicht, und das Ziel war „nur“ noch 39 Km entfernt. Doch vor allem die Hitze hatte mich körperlich und mental zermürbt, so dass ich dachte: „Nichts geht mehr! Aus! Vorbei!“ Bereits am gleichen Abend, bei der Siegerfeier auf dem Marktplatz in Sparta, wurde mir klar, dass die Aufgabe ein großer Fehler gewesen war; und der Entschluss stand fest: „Nächstes Jahr probierst Du es wieder!“
Bei der späteren Analyse kristallisierten sich zwei Hauptgründe für das Versagen heraus: (1) die objektiven, äußeren Umstände mit schattenlosen 32 ° an beiden Tagen, die allen Teilnehmern stark zu schaffen machten und dementsprechend die Finisher-Quote auf ca. 25 % drückten. (2) die subjektive Saisonplanung, die zwar für den Zeitraum Februar – Juli ausreichend viele Wettkampf- und Trainings-Kilometer umfasste, nach dem Swiss Alpin jedoch ein großes „Sommerloch“ aufwies, so dass die Vorbereitungsphase im Anschluss an vier „faule“ Wochen im August einfach zu kurz war.
    Für den zweiten Versuch folgte hieraus: Einerseits hoffen und beten, dass der Wettergott Ende September gnädiger gesinnt sein würde; andererseits ein klügeres Timing für das Training vor allem im Sommer konzipieren. Die Saison 2000 sah deshalb viele, immer längere Wettkämpfe vor: März 60 km Marburg; April Boston Marathon und 100 km Rodenbach; Mai Hamburg 24 h; Juni 12 Std. Brühl; Juli 48 h Köln und für den „letzten Schliff“ im August noch einmal 100 km Leipzig. Dieses für meine Verhältnisse äußerst ehrgeizige Konzept ging aber leider nicht auf.
    Im Januar bekam ich nach der Bergsteigerei in den Anden (Aconcagua: 6959 m) nur lächerliche 100 Laufkm zusammen. So reichte die Form im März noch nicht aus, um die 60 km in Marburg wie erhofft unter 5 Std. zu laufen; immerhin waren 5:10 h recht passabel. Auch der Boston-Marathon blieb mit 3:23 h (netto) noch im Rahmen, doch dann folgte ein Flop nach dem anderen. Bei den 100 Km DM musste ich schon zur Hälfte die Segel streichen: Boston steckte noch in den Knochen, und die unzeitgemäße Wärme tat ihr übriges. Ende Mai hatte ich, zumindest von den Trainingswerten her, eine sehr gute Form und fuhr voller Erwartungen nach Hamburg, wollte auf jeden Fall meine Bestzeit von 1998 (Apeldoorn 204 km) verbessern, hatte insgeheim auf „magische“ 210,975 km gehofft. Doch das Rennen war verhext; die ersten 72 Km in 7 Std. etwas zu schnell angegangen; dann leichte Magenprobleme und Leistungsabfall; Knieschmerzen kamen hinzu und ließen mich nach ca. 125 Km aussteigen.
    In den folgenden Wochen war ich mehr als frustriert; vor allem die Knieprobleme drohten, das Projekt „Spartathlon im 2.“ zunichte zu machen. Doch ein erfahrener Orthopäde, der mir in Wochenabständen 5 mal Hyalart ins Gelenk spritze, ließ Hoffnung aufkeimen. Im Juni konnte ich wieder fast schmerzfrei trainieren und ging in Brühl an den Start. Die ursprüngliche Ambition, meine 12 h Bestleistung von 1997 in Richtung 3fach Marathon zu verbessern, war natürlich illusorisch geworden. Jetzt ging’s nur noch darum zu testen, ob das Knie überhaupt einen Ultra durchhielt. Es hielt, u.a., weil ich die kurzen, steilen An- und Abstiege ins Stadion praktisch mit gestreckten Beinen lief. Das sind zwar jeweils nur ein paar Höhenmeter pro Runde, doch die summieren sich ganz schön, wie mir nach einigen Stunden heftige Rückenschmerzen signalisierten. Also stieg ich nach 60 Km (5:53 h) erneut aus.
    Damit musste ich mir das Projekt 48 h Köln natürlich „abschminken“, doch immerhin konnte ich weiter trainieren und achtete darauf, dass der Umfang auch in den Ferienmonaten nicht unter 80 Km/Woche abfiel. Die letzte Generalprobe fand Ende August in Leipzig statt. Ich hatte gehofft, die 100 km „locker“ in 10 Stunden laufen zu können (bei einer Bestzeit von 8:53 h aus dem Jahre 1998); am Ende reichte die Form aber nur für 80 km in knapp 8 Stunden. Dennoch blieb ich guter Dinge und flog am Donnerstag, den 27. September mit einigem Optimismus nach Athen.
    Der Wettergott war den Läufern diesmal gnädig. Die Vorhersagen kündeten von angenehmen 25 Grad (die nur am Samstag Nachmittag etwas überschritten wurden), und so sprach von den äußeren Bedingungen nichts gegen folgendes Konzept: Das erste Drittel bis Korinth (81 km) unter 9 h bleiben; für das zweite, vom Profil her schwierigste Drittel über den 1100 m hohen Pass nach Sangas (164 km) reichliche 13 ½ h einzuplanen; und das Schlussdrittel bis Sparta (245 km) in noch einmal 13 ½ h irgendwie durchzuziehen.
    Zunächst lief alles wunderbar. In der morgendlichen Kühle mit flottem Tempo gestartet, den ersten Marathon in knapp 4 Std. absolviert; Korinth vor-planmäßig nach 8:15 h erreicht und nach einer Verpflegungspause gegen 8:30 h schon wieder verlassen. Mit diesem Polster im Rücken ging ich das Mitteldrittel verhalten an, genoss die allmählich lieblicher werdende Landschaft Arkadiens und erreichte in später Nacht den Fuß des Sangas-Passes noch relativ frisch. Der steile und anstrengende Bergpfad erforderte diesmal bei Neumond besondere Aufmerksamkeit und eine gute Taschenlampe. Leider gaben meine Batterien während des Abstiegs fast den Geist auf, doch mit etwas Herzklopfen erreichte ich Sangas ohne Sturz. Gegenüber dem Planziel hatte ich gut 30 Minuten, gegenüber der Vorjahreszeit mehr als eine Std. gutgemacht. Deshalb konnte ich das letzte, vom Mentalen her schwierigste Drittel ganz ruhig angehen.
    Doch bald tauchte ein unerwartetes Problem auf: Unendliche Müdigkeit! Im Kopf nur noch der Gedanke: „Hinlegen! Augen zu! Ein bisschen schlafen! Nur eine Viertelstunde!“ Doch jenseits von Sangas gibt es kein Bett; nicht einmal einen Grasstreifen am Straßenrand, nur kalte, harte Felsen. Ich war sooo müde, dass ich mich sogar kurz flach auf der Straße ausstreckte. Doch angesichts der Kühle (5°?) war kein Nickerchen möglich. Also stand ich auf, torkelte schlaftrunken irgendwie weiter; beim Gehen fielen mir im Sekundenschlaf wiederholt die Augen zu, und im Kopf immer nur der Gedanke „Du musst schlafen, nur eine Viertelstunde!“
    In diesem Trancezustand wäre ich fast an der Verpflegungsstelle # 51 vorbeigelaufen, wenn mich der Posten nicht mit einem lauten Ruf aus der Trance aufgeschreckt hätte. Ich setzte mir kurz auf seinen Stuhl; ließ mir einen Kaffee geben; erfuhr, dass es bis zum nächsten „Bett“, einer Massageliege in Nestani, nur noch 2 ½ Km wären. Allein diese Aussicht reichte aus, mich wieder wach und fit zu machen. Von nun ab lief’s problemlos weiter.
    In Alea/Tegea (Km 195) hatte ich den Vorsprung von 30 Minuten gegen dem „Soll“ wieder gutgemacht und „wusste“, dass ich das Ziel im Limit von 36 h erreichen würde. Die lange, zweite Steigung hinauf zur Tankstelle Elda, die mich im Jahr zuvor so zermürbt hatte, ging ich somit beruhigt an. Ich machte ein Erinnerungsphoto von dem Stuhl, auf dem ich mich beim „Ausstieg“ damals mit einer Dose Bier getröstet hatte:
Danach nahm ich die letzten unbekannten 39 Kilometer in Angriff. Der folgende, ca. 12 Km lange Höhenabschnitt war wegen des permanenten Auf und Ab noch recht hart. Danach aber, spätestens oberhalb des „Monument“, geht’s praktisch nur noch bergab. Als ich dies irgendwo hinter dem 67. Verpflegungspunkt realisierte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
    Es war kurz vor 14 Uhr; ich hatte mittlerweile mehr als eine Std. Vorsprung gegenüber dem „Soll“, und vor mir lagen nur noch 27 Kilometer. Wenn ich jetzt richtig „Gas“ geben und die Bergabstrecke mit einem Tempo von knapp 7 Min/km bzw. 9 km/h bis Sparta durchlaufen würde, wäre eine Finisherzeit unter 34 h möglich. Also begann der längste „Endspurt“ meiner Ultra-Laufbahn. Die Aussicht, ein so unerwartet gutes Ergebnis zu erzielen, zusammen mit einer gehörigen Dosis Endorphine, machte mich „high“ und mobilisierte ungeahnte Kräfte. Ich lief und lief; stoppte an den Verpflegungsstellen nur, um einen Becher Cola hinunter zu kippen und die Wasserflache aufzufüllen; überholte in den nächsten 2 ½ Stunden mindestens 10 andere Läufer; und fragte mich hin und wieder etwas ängstlich, wie lange dies wohl gut gehen würde.
    Gegen 16 Uhr erreichte ich die „Voutiani Gas station“. Auf meine Frage, wie weit es noch bis Sparta wäre, rief eine Amerikanerin: „Only 9 kilometers“. Eine „Traumzeit“ von 33:59 h erschien also immer noch möglich. Das hieß: Weiter „spurten“, die letzten langen Serpentinen hinab noch mehr müde Läufer überholen, bis endlich der allerletzte Verpflegungspunkt „Kladas“ in Sicht kam. Die Uhr zeigte 16:33 h, und das offizielle Streckenschild verkündete noch exakt 4 ½ Km bis zum Ziel. Die „9 Kilometer“ der Amerikanerin waren also in Wirklichkeit 9,5 km lang gewesen, und dieser kleine Unterschied bedeutete: Aus der Traum! Denn eine Überschlagsrechnung machte mir klar: Selbst wenn ich auf dem flachen Reststück ein Tempo von 7 min./km halten könnte, wäre eine Zeit unter 34 h einfach nicht mehr drin.
    Sobald ich dies realisierte, war die „Luft“ schlagartig raus. Einen solch dramatischen Schwund der Kräfte hatte ich noch nie erlebt. Eigentlich wollte ich im Tempo der letzten 3 Stunden weiterlaufen, doch die Beine waren ein einziger Pudding. Es dauerte nicht lange, da überholte mich Robert Littlewood, den ich eine Viertelstunde zuvor noch hatte „stehen lassen“. Ich versuchte zu beschleunigen, sein auch nicht gerade berauschendes Tempo mitzugehen, aber es war vergebens. Robert zog davon, war bald 200 Meter vor mir, bis allmählich die Stadtgrenze von Sparta ins Blickfeld rückte und meine Kräfte ein kleines bisschen zurückkehrten. Kurz vor 16 Uhr überquerten wir den „Evrotas River“. Sparta war erreicht, das Ziel bei der Statue des Königs Leonidas laut Streckenplan nur noch 1800 m entfernt. Da Robert seinen Vorsprung nicht hatte vergrößern können, setzte ich noch einmal zu einem richtigen Endspurt an und hatte ihn keuchend binnen weniger Minuten eingeholt. Doch das ersehnte Ziel kam und kam nicht in Sicht.
    Anders als auf der gesamten zurückliegenden Strecke sind die letzten 2 Kilometer nicht mehr durch weiße „SP“-Pfeile auf der Straße markiert. Stattdessen sollen die Finisher am Stadtrand von Mädchen in weißen Gewändern empfangen und zum Ziel geleitet werden. Doch offenbar gibt’s in Sparta nicht genügend sportliche Jungfrauen; jedenfalls bestand unsere Geleitmannschaft aus einer Horde von Jungen auf Rädern und Skateboards, die uns in holprigem Englisch versicherten, den Weg zum Ziel zu kennen. Der allerletzte Kilometer wurde so schätzungsweise 2000 Meter lang und kostete mich die allerletzten Reserven. Doch als das Ziel nach insgesamt 34:16 h erreicht war, war die Freude mindestens so groß wie die Erschöpfung. Ein Lebenstraum, ein „magisches Ziel“ war im 2. Anlauf endlich geschafft!

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