28.-30.6.2002 Universität Osnabrück
Alberto Savinio und die europäische Kultur der Zwischenkriegszeit

Aus Anlaß des 50. Todestages des italienischen Schriftstellers, Malers und Komponisten Alberto Savinio (1891-1952) findet vom 28. bis 30. Juni 2002 an der Universität Osnabrück ein internationales interdisziplinäres Kolloquium statt, das das schriftstellerische und malerische Werk des in Griechenland geborenen Künstlers auf dem Hintergrund der europäischen Kultur der Zwischenkriegszeit untersuchen und in diesem Zusammenhang die Frage nach einer europäischen Kultur und Identität stellen wird. Das Programm des Kolloquiums umfaßt drei Sektionen: 1. Poetik zwischen Mythos und Wissenschaft 2. 'Theatrum mundi' - Malerei und Theater 3. Alberto Savinio und Europa. Die Referentinnen und Referenten sind:  Peter Gahl, Andrea Grewe, Magdalena Holzhey, Giuditta Isotti-Rosowsky, Paola Italia, Gerd Roos, Maria Elena Gutierrez, Sabine Schrader, Alessandro Tinterri, Luca Valentino, Pia Vivarelli, Martin Weidlich, Margarete Zimmermann. Tagungssprachen: Deutsch und Italienisch.
Veranstalter:  Prof. Dr. Andrea Grewe: (+49) 0541/969-4477; agrewe@uos.de
Sekretariat: Marisa Alvarez: 0541/969-4278; malvarez@uos.de
Nathalie Crombée: 0541/969-4058; ncrombee@uos.de
Anschrift: Universität Osnabrück 
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft 
49069 Osnabrück.

Zum Programm
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Bericht über die Tagung an der Universität Osnabrück (28. bis 30. Juni 2002)

In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1952 starb 61jährig der italienische Maler, Schriftsteller, Pianist und Komponist Alberto Savinio, mit bürgerlichem Namen Andrea De Chirico. Mag sein, dass für die "pittura metafisica" und die Entwicklung der Malerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Bruder Giorgio mehr Bedeutung hatte. Doch Savinios umfassende Begabung auf vielen Gebieten der Kunst macht ihn zweifellos zu einem außergewöhnlichen Repräsentanten der europäischen Avantgarde. Im vergangenen Jahr haben die Kunstsammlungen Düsseldorf und das Haus der Kunst in München das malerische Werk der Brüder De Chirico mit einer großen Ausstellung gewürdigt ("Die andere Moderne: De Chirico – Savinio"). Dazu erschien ein umfangreicher Katalog mit Beiträgen auch zum literarischen Schaffen Savinios. Bei der Eröffnung der Ausstellung wurden einige seiner Kompositionen für Klavier vorgetragen, ein Begleitprogramm enthielt Lesungen aus Savinios Texten. Diese wirken spröde, erschliessen sich nicht unmittelbar. Savinios Stil ist sprunghaft und assoziativ, voller ungewöhnlicher Gedanken, Volten und Neologismen. Das schriftstellerische Werk umfasst Erzählungen, Reiseberichte und Essays, wobei die Genres ineinander übergehen und schwer abgrenzbar bleiben. Hinzu kommen Opern, zu denen Savinio auch das Libretto schrieb, radiodrammi, Theaterstücke.

Mit Savinios Bedeutung und Wirkung innerhalb der europäischen Geistesgeschichte befasste sich unlängst aus Anlass des 50. Todestages ein internationales Kolloquium ("Alberto Savinio und die europäische Kultur der Zwischenkriegszeit – Alberto Savinio e la cultura europea nel periodo fra le due guerre"), das vom 28. bis 30. Juni 2002 unter der Leitung von Andrea Grewe, Professorin für Italienische und Französische Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück stattfand. Andrea Grewe ist als Autorin der ersten grossen Monographie in deutscher Sprache über Savinio1 prädestiniert für die Aufgabe, Kenner des Savinianischen Werkes auf allen Gebieten der Kunst zusammenzurufen und in einen Dialog zu bringen. Das Programm des Kolloquiums sah in dicht gedrängter Abfolge zwölf Vorträge von Savinio-Exegeten aus Italien, Deutschland, Frankreich und den USA vor, die sich von verschiedenen Seiten dem schwierigen und komplexen Werk des Autors und Malers Savinio näherten.

In ihrer Einführung verwies die Gastgeberin darauf, dass Savinio noch nicht zum ‚Kanon‘ der italienischen Literatur in der Romanistik (Italianistik) gehöre. Sein ausgesprochen kosmopolitischer Werdegang, der ihn von Griechenland über Deutschland und Frankreich schließlich nach Italien führte, habe eine Art Vorbildcharakter für den Typus des europäischen Bürgers von heute, es lohne sich also – abgesehen von den reichhaltigen inhaltlichen Aspekten seines Werkes –, die Figur Alberto Savinio in den Mittelpunkt einer Tagung zu rücken. Die internationale Zusammensetzung des Podiums brachte es mit sich, dass Deutsch und Italienisch die Diskussionssprachen waren. In vorbildlicher Weise lagen nahezu sämtliche Vorträge in der jeweils anderen Sprache in schriftlicher Form vor, wenn nicht im Wortlaut, so doch in einer Zusammenfassung. Auf diese Weise war eine optimale Verständigung der Referenten und der Tagungsteilnehmer gewährleistet.

Eine brisante Frage ist Savinios ambivalentes Verhältnis zum Faschismus; er hat durchaus in regimenahen Zeitschriften publiziert, und es ist schwierig auszumachen, inwiefern diese Mitwirkung ideologisch begründet war. Sie ist wohl letztlich aus Opportunismus erfolgt und fand 1939 ein jähes Ende, nachdem ein Artikel über Giacomo Leopardi in der Wochenzeitung Omnibus Unmut erregte. Die Zeitung musste zumachen und Savinio erhielt generelles Publikationsverbot. Er füllte die freie Zeit, so die Erinnerungen von Savinios Ehefrau Maria, mit Malen. Nach 1945 wurde dann deutlich, dass Savinios europäisch-antinationalistische Haltung eine Identifizierung mit dem Faschismus ausgeschlossen haben musste, wie der Theaterwissenschaftler Alessandro Tinterri (Museo Biblioteca dell’attore, Genova) in seinem Vortrag zum Thema "L'Europa di Savinio" ausführte. In eine ähnliche Richtung ging das Thema des Vortrags von Paola Italia (Universität Pavia): "Nazionalismo ed europeismo nei saggi saviniani del primo dopoguerra". Italia zitierte aus bisher unveröffentlichten Dokumenten aus dem Florentiner "Fondo Savinio", in denen Savinio mitunter sehr gegensätzliche Positionen zur "italianitˆ" einnimmt. In einem Text aus den 20er Jahren plädiert er dafür, dass Italien sich nicht auf seine eigenen Qualitäten beschränken dürfe, wenn es im zukünftigen Europa bestehen wolle, sondern sich durch Elemente der anderen Kulturen bereichern müsse. Diese visionäre Ansicht blieb, wie gesagt, unveröffentlicht.

Mit den politischen Konnotationen der Arbeit Savinios für das Theater beschäftigte sich der Vortrag von Luca Valentino, Dozent am Conservatorio Vivaldi, Alessandria ("La funzione politica e conoscitiva dello spettacolo per Alberto Savinio"). Valentino, erfahren als Regisseur von Theaterstücken Savinios, legte dar, inwiefern dessen Konzepte Tendenzen des heutigen Theaters antizipiert haben, wie etwa die Idee einer Kommunikation mit dem Publikum. Das Theater müsse für Savinio immer Bezug auf die Gegenwart nehmen und politisch sein, weshalb Savinio es als "arte impura" bezeichnete. Der Musiker Savinio fasste zudem Musik als integralen Bestandteil seines Theaters auf. Diese habe jedoch unabhängig von der szenischen Handlung zu sein und "die Aufgabe, Ironie und Dramatik der Situation kontrastiv zu unterstreichen" (Valentino). Dies blieb leider während der Tagung der einzige Hinweis auf Savinios Anstrengungen auf musikalischem Gebiet.

Mit der ungewöhnlichen Bildsprache Savinios befassten sich die Literaturwissenschaftler/innen. Margarete Zimmermann (Professorin für Französische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin) erläuterte die gewagten Körperbilder, die sich in Savinios Texten und Bildern durchgängig finden: Gummipuppen, Maschinenmenschen, "hommes sans visages", steinerne/marmorne Frauenkörper, Verstümmelte, und vor allem: Kopflose ("Hybride, fragmentierte, transformierte Körper. Körperimagination in der Prosa des Alberto Savinio"). Die problematische Körperlichkeit sei eine Äußerung, so Zimmermanns These, die die Geschlechterhierarchie grundsätzlich in Frage stellt, gleichzeitig aber auch die in Savinios Zeit als Ideal propagierte Perfektion des Körpers massiv ironisiert. In diesem Zusammenhang ist auch die androgyne Komponente von Savinios Körperdarstellungen zu nennen, ein Thema, das ihn zeitlebens interessierte: Sein erster großer literarischer Erfolg trägt den Titel Hermaphrodito. Dass die "krisenhaften Körper" (Zimmermann) auch Ausdruck der eigenen Identitätskrise des empfindsamen und weichen Savinios sind – man denke an die Briefe, die er an seine Verlobte Maria geschrieben hat –, ist wahrscheinlich. So liegt es auch nahe, seine literarische

Sprache psychoanalytisch zu deuten, wie es María Elena Gutíerrez (Associate Professor an der University of Buffalo/State New York) in ihrem Vortrag mit dem Titel "Lapsus e freddure: Linguaggio e psicanalisi in Savinio" tat. Druckfehler, Freudsche Fehler sind "manifestabili elementi della nostra coscienza" (Savinio) und werden von Savinio deshalb nicht korrigiert, sondern beibehalten, ermöglichen sie doch, übrigens ebenso wie Witze und Kalauer, das Verhältnis von Signifikat und Signifikant neu zu ordnen. "Perché noi in Italia non abbiamo la psicanalisi?" fragt Savinio provozierend in einem Artikel und reiht sich damit ein in eine von Italo Svevo begründete, in Italien immer noch marginalisierte Anhängerschaft der Psychoanalyse.

Die Überlegungen zur literarischen Ästhetik Savinios wurden komplettiert durch Ausführungen über das Verhältnis Savinios zum Surrealismus und zum Mythos. Giuditta Isotti-Rosowsky machte in ihrem Vortrag "Savinio, la Francia e il surrealismo" deutlich, wie Savinio sich einerseits kosmopolitisch und "modern" gab, wie sehr er aber andererseits stets eine individuelle Linie verfolgte. Eckpfeiler des Savinianischen Schaffens ist der Mythos, dessen er sich in vielfacher Weise "bedient". Peter Gahl (Universität Konstanz) erläuterte virtuos, wie Savinio sich von dem Ideal "linguistischer Autarkie" abwendet und Elemente aus anderen Sprachen und Registern bedenkenlos aufnimmt ("‘Miti filologici‘ statt sprachlicher Autarkie"). Savinio, der vielsprachig Aufgewachsene, macht vielleicht aus der Not eine Tugend und entwickelt ein ganz eigenes literarisches Idiom. Die Gastgeberin Andrea Grewe wagte in ihrem Referat über die Mythen-Rezeption Savinios die These, dass Savinio Positionen eines "europäisches Nachdenkens über Kultur" vorwegnehme, mit dem Kulturwissenschaftler sich heute beschäftigen (müssen). ("Kultur, Memoria und Mythos. Savinio und der europäische Diskurs über Kultur"). Savinio sei, so Grewe, einem modernen Begriff von Kultur anhängig, der "kulturelle Identität" als "kollektives Gedächtnis" definiere. Das Ergebnis sind Texte, die von der Spannung zwischen ‚high‘ und ‚low‘, Mythos und Alltagskultur leben und die aus der microstoria ein kulturelles System ableiten: "La memoria è la nostra cultura" (Savinio). Martin Weidlich, der z.Zt. bei Michael Rössner über Savinio promoviert, fand Parallelen zwischen Oswald Spenglers geschichtsphilosophischem Werk Der Untergang des Abendlandes und Texten Savinios ("Untergang der ‚gotisch-faustischen‘ und Morgenröte der ‚lateinischen‘ Kultur in Savinios Essayistik der 30er und 40er Jahre").

Unter dem Motto "Savinio intermediale – Savinio und der Film" machte sich Sabine Schrader (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Leipzig) Gedanken zum Verhältnis Savinios zum Film. Ihre Überlegungen gliederten sich in zwei Teile: Savinios Äußerungen über Filme und die Imitation von Filmstrategien wie Montage- und Schnitt-Techniken in seiner Prosa. Am Beispiel der Essays in Ascolto il tuo cuore, cittˆ ließen sich sicherlich viele solcher Verfahren zeigen.

Zwei Vorträge widmeten sich schließlich dem Maler Alberto Savinio, eine schöne Ergänzung zum ansonsten textorientierten Programm: So konnte der Berliner Kunsthistoriker Gerd Roos in seiner Lesart des Bildes "Entdeckung einer neuen Welt" (1929) zeigen, wie Savinio zwei Ebenen ironisch miteinander verschränkt: er spielt mit Bildzitaten und ikonographischen Konventionen, und dokumentiert, wie Roos detailliert darlegte, seine Rezeption des Nietzscheanischen Dualismus zwischen apollinischem und dionysischem Prinzip ("Alberto Savinio, La découverte d’un monde nouveau (1929) und Shiva, Le créateur"). Das Werk ist lesbar als kunsttheoretische Reflexion und als surrealistisches Bild und damit Ausdruck der Überzeugung Savinios, dass nicht nur eine Wahrheit existiert, sondern Kunst und Leben immer ambivalent bleiben. Dieses Thema griff auch Magdalena Holzhey in ihrem erhellenden Blick auf die Rezeption der Malerei Savinios in der italienischen Gegenwartskunst auf: "Le molte verità. Alberto Savinio und die italienische Transavanguardia". Die junge Düsseldorfer Kunsthistorikerin, Romanistin und Musikwissenschaftlerin machte überzeugend deutlich, dass sich Motive Savinios wie etwa die Verbindung von hohen und niedrigen Registern, das Assoziative, die kopflosen, fragmentierten Körperdarstellungen und mythologische Bezüge, in der Malerei von Luciano Fabro, Francesco Clemente und Sandro Chia, herausragenden Vertretern der Arte Povera bzw. der Transavanguardia, wiederfinden. Warum sich die "postmodernen" Maler gerade für Savinio und nicht so sehr für De Chirico begeisterten, erklärt Clemente selbst mit der Uneindeutigkeit, die Savinios gesamtes Schaffen kennzeichne.

Angesichts der komplexen und anspruchsvollen Gestalt von Savinios Werk kann die Frage nicht ausbleiben, warum es außerhalb Italiens von der Zunft und vom Publikum nur am Rande wahrgenommen wird. Freilich: Als Komponist (er lernte u.a. bei Max Reger in München und traf in Paris mit der Gruppe der ‚Six‘ zusammen) war Savinio trotz aller Extravaganz letztlich epigonal; als Maler stand er im Schatten seines Bruder – bewusst, muss man wohl sagen, weil er sich auch hier nicht auf eine Linie festlegen wollte. Als Schriftsteller war Savinio am erfolgreichsten, und auch am produktivsten. Doch auch hier könnte die mangelnde Anerkennung seines Werks darauf zurückzuführen sein, dass es sich gegen eindeutige Kategorisierungen sperrt. Vielleicht steht der Rezeption aber auch noch etwas anderes im Wege, denn es könnte sein, dass gerade die starke Betonung des Unbewussten, des Unerklärten und Unerklärlichen dem Leser allzu ‚unheimlich‘ ist, insofern alles dieses nicht durch eine deutlich fiktionale Ebene auf Distanz gehalten wird (wie z.B. bei Edgar Allen Poe), sondern direkt auf den Künstler und Menschen Savinio zurückverweist.

(Caroline Lüderssen)

Die Tagungsakten werden veröffentlicht.
 
 

1 Melancholie der Moderne. Studien zur Poetik Alberto Savinios, Frankfurt: Klostermann Verlag 2001 (Analecta Romanica, 64).

Dieser Bericht erschien zuerst in Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur, Nr. 48/November 2002, S. 167-171.