„Rocky Mountains 1200 K“ – Ein etwas andere Art von Ultra

Ein Bericht von Wolfgang Lenzen

Gemäß den Statuten der DUV ist relativ klar festgelegt, dass ein Ultramarathon „deutlich länger als ein Marathon“ sein muss. Wer ein Plus von knapp 20 % für deutlich länger hält, wird die Einsteigerdistanz vom 50 Km bereits für einen solchen halten; außer Frage steht jedenfalls, dass die „klassischen“ 100 Km einen echten Ultra darstellen. Im Radsport sind die Dinge komplizierter. Dort ist nicht einmal definiert, wie lang ein Marathon zu sein hat. Wenn man davon ausgeht, dass ein durchschnittlicher Läufer im Training 10 – 12 Km/h zurücklegt, ein durchschnittlicher Radler hingegen 25 – 30 Km/h, so wäre vom zeitlichen Aufwand her eine Strecke von 2,5 ´ 42, also ca. 105 Km ein Radmarathon, während der 100er Ultra einem 250 Km Rennen mit dem Velo gleichkäme. De facto ist aber ein Radmarathon meist schon ca. 200 Km lang, so dass per Analogieschluss ein Ultra auf dem Rad noch einmal „deutlich länger“ sein muss. In diesem Sinne hat Reinhard Schröder, einer der Pioniere der deutschen Randonneur-Szene, als Ultra-Radsportler jemanden definiert, der „auf dem Rennrad Distanzen über 300 km an einem Stück fährt und dabei versucht, möglichst schnell zu sein bzw. bei entsprechenden Rennen möglichst viele Konkurrenten hinter sich zu lassen“. Deshalb stellt z.B. die „Vättern-Rundan“, ein beliebter 300 Km Kurs rund um den Vätternsee in Schweden, zumindest eine Einsteigerstrecke für Ultra-Radler dar. Und was dem Läufer die 100 Kilometer von Biel sind, das ist dem Radler „Den store Styrkeproven“, eine 540 Km Tour von Trondheim nach Oslo, die jedes Jahr viele Tausende nach Norwegen lockt.

Meinen persönlichen Einstieg in den Ausdauersport fand ich vor knapp 20 Jahren über das Radfahren. Danach stand eine Zeit lang Triathlon im Vordergrund, bis ich mich mehr und mehr aufs Laufen konzentrierte. Den ersten Marathon absolvierte ich 1989 in Berlin; fünf Jahre später als ersten Ultra den Swiss Alpine in Davos; bald darauf den ersten Hunderter in Biel; und so hätte ich wohl noch einige Jahre mit den Ultras weitergemacht, wenn mir nicht im Frühjahr 96 heftige Knieschmerzen signalisiert hätten, mit dem Laufen erst mal zu pausieren und lieber zum Radfahren zurückzukehren. So lautete mein einziges Ziel in jenem Jahr, das Radrennen Trondheim-Oslo möglichst an einem Tag zu absolvieren (was mir mit einer Endzeit von 23:53 h auch punktgenau gelang). Nach einer arthroskopischen Knieoperation, bei der die lädierten Knorpelflächen geglättet wurden, konnte ich im Herbst 96 wieder vorsichtig mit dem Laufen anfangen. Doch seitdem ist jeder Wettkampf ein Vabanque-Spiel: Halten die Knie, oder halten sie nicht? Beim ersten Versuch über die 24 Stunden (Reichenbach 1997) musste ich wegen starker Schmerzen aufgeben; doch ein paar Wochen darauf schaffte ich beim 12-Std.-Lauf in Brühl gut 120 Km. Im Jahre 1998 trugen mich die Knie beim 24 h Lauf von Apeldoorn sogar über 200 Km weit; und 1999 unternahm ich den ersten Versuch beim 245-Km langen Spartathlon. Obwohl die Knie überraschenderweise hielten, musste ich nach gut 200 Km erschöpft „aussteigen“. Erst im darauffolgenden Jahr erreichte mit einer Endzeit von 34:15 h das ersehnte Ziel. Anfang 2001 machten die Knie jedoch wieder solche Beschwerden, dass in der folgenden Saison kein einziger Wettkampf möglich war. 2002 schließlich wurden die Schmerzen so schlimm, dass eine weitere Operation unvermeidbar war. Die Knorpel waren mittlerweile so stark lädiert, dass der Orthopäde mir riet, die Laufschuhe an den Nagel zu hängen und die alte Liebe, das Radfahren, zu reaktivieren.

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Diese lange Leidensgeschichte erzähle ich nicht, weil sie an und für sich besonders interessant wäre, sondern nur als Einführung in den folgenden Bericht über den „RM 1200 K“, einen Ultra-Radmarathon, der vom 23. – 27. Juli in den kanadischen Rocky Mountains stattfand. Bei der Suche nach kniefreundlicheren Herausforderungen war ich auf die Homepage der „Audax Randonneure“ gestoßen – eine in Frankreich gegründete Vereinigung von „verwegenen Langstreckenradlern“, die 1891 zum ersten Mal das gut 1200 Km lange Rennen Paris-Brest-Paris organisierte. Um sich für diesen Klassiker des Rad-Ultramarathons zu qualifizieren, muss man vorab eine Serie von sogenannten Brevets über 200, 300, 400 und 600 Km absolvieren, und zwar innerhalb von 13, 20, 27 bzw. 40 Stunden.

Auf den ersten Blick kamen mir diese Zeiten äußerst großzügig bemessen vor, entsprachen sie doch einem Brutto-Schnitt von nicht mehr als 15 km/h. Doch ein Brevet ist kein organisierter Radmarathon, bei dem die Strecke ausgeschildert und abgesperrt und vom Veranstalter für die Verpflegung gesorgt wird. Ein Randonneur muss sich um alles selber kümmern, Getränke und Essen an Tankstellen, Bäckereien oder Gastwirtschaften besorgen, und, nur mit einem „Roadbook“ und einer Landkarte ausgestattet, den Weg zum Zielort im Prinzip alleine finden. Bei nächtlichen Fahrten kann durch Sucherei nach der richtigen Abzweigung so manche Viertelstunde verloren gehen; und wenn man sich verfährt, natürlich noch viel mehr. Jedenfalls sollte ich recht bald am eigenen Leib erfahren, dass man bei einem Brevet, um einen Brutto-Schnitt von 20 km/h zu erzielen, netto ca. 25 km/h einhalten muss. Das ist zwar für einen trainierten Radler jederzeit machbar, aber bei längeren Einheiten, die zumeist ein anspruchsvolles Höhenprofil aufweisen, durchaus kein Pappenstiel!

Ende März waren die operierten Knie fast schmerzfrei, so dass ich mit dem Training beginnen konnte. Als Saisonziel kam Paris-Brest-Paris nicht in Frage, weil dieses Rennen nur alle vier Jahre, das nächste Mal 2003, ausgetragen wird. Doch zum Glück gibt es weltweit eine Reihe von Alternativen, z.B. Sofia-Varna-Sofia, Boston-Montreal-Boston oder eben RM 1200 K“1200 kilometres of day and night cycling through evergreen forests and mountain national parks of British Columbia and Alberta.“ Als Qualifikation hierfür muss man innerhalb der letzten vier Jahre eine Brevetserie absolviert haben. Da ich noch überhaupt nie Brevet gefahren war, hieß das zunächst, innerhalb eines Vierteljahres die 200er, 300er, 400er und 600er Strecke nachzuholen.

In Deutschland werden Brevets von verschiedenen Landesverbänden angeboten. Ich suchte mir die hessische Serie aus, weil sie vergleichsweise spät begann und mir so Gelegenheit gab, Trainingsdefizite ein bisschen auszugleichen. Der 200er sollte am Himmelsfahrtstag stattfinden. Bis dahin hatte ich (u.a. wegen des im April recht regnerischen Wetters) nur gut 1300 Trainingskilometer in den Beinen, doch in der Gruppe um Martin Kirschner konnte ich bis Km 150 recht gut mithalten. Kurz darauf war das Rennen für mich aber praktisch schon vorbei, und zwar nicht wegen konditioneller, sondern technischer Probleme. Bei einer Abfahrt hatte ich mich verschaltet, die Kette sprang ab, das Schaltwerk verhakte sich im Hinterrad, eine Speiche nach der anderen zersprang mit lautem Knall, und die verkeilte Einheit aus verdrehter Kette und verbogenem Schaltwerk zerlegte die aus Karbon gefertigte Hinterradstrebe, so dass an Weiterfahren nicht zu denken war. Der schöne, sechs Jahre alte Cadex-Rahmen mutierte zu einem Fall für den Sperrmüll, und die Qualifikation für RM 1200 K schien bereits bei der ersten Generalprobe gescheitert. Frustriert ließ ich die anderen davon ziehen und überlegte, was mit dem kaputten Rad geschehen sollte. Zum Glück schaffte ich es, meinen Sohn Christoph im 50 Km entfernten Giessen per Handy zu Hilfe rufen. Gut eine Stunde nach dem Unfall war er mit dem Auto bei mir und hatte sein Tourenrad im Kofferraum, mit dem ich – schwer tretend – den Rest des Brevets doch noch bestreiten konnte. Knapp eine Stunde vor Ablauf des Limits traf ich an der Jugendherberge Giessen ein und hatte mir so die Chance für die weitere Qualifikation offen gehalten.

Bereits 10 Tage später stand der 300er auf dem Programm. Wegen einer massiven Erkältung musste ich absagen, tröstete mich aber damit, dass Anfang Juli in der Schweiz ein weiteres, als Brevet anerkanntes 300 Km Rennen stattfinden würde. Mitte Mai war ich wieder gesund und ging in Giessen Samstag nachmittags um 16 Uhr optimistisch an den Start des 400er: Eine knappe Stunde später erwischte uns ein heftiger Wolkenbruch, so dass wir eiligst in ein Waldstück flüchten, Goretex-Kleidung überziehen und den schlimmsten Teil des Gewitters durchnässt und frierend aussitzen mussten. Dennoch erreichten wir Mainz am Abend einigermaßen abgetrocknet, fuhren nachts über Speyer weiter nach Heidelberg, um im Morgengrauen entlang des Neckars, später gen Norden zum Ausgangsort zurück zu steuern. Ungefähr 300 Km konnte ich das Tempo der anderen mithalten. Bei den langen Steigungen im Odenwald musste ich jedoch irgendwann abreißen lassen und mich die restlichen 150 Km nach Giessen – unser 400er war nämlich von vornherein gut 420 Km lang und wegen diverser Umwege wurden letztendlich 450 Km daraus – anhand der Karte solo durchschlagen.

Zwei Wochen später fand der 600er statt. Start Samstagmorgen um sechs, Zielschluss Sonntagabend um zehn Uhr. Leider war Petrus den Radlern nicht wohlgesonnen. Zwar blieben wir von Regen weitgehend verschont, aber trotz kalendarischem Hochsommer war es bitter kalt. Bei heftigem Wind kamen wir zwar zunächst gut voran, hatten bis abends um Neun schon knapp die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und genehmigten uns in einer Kneipe eine ausführliche warme Mahlzeit. Danach jedoch begann der harte Teil der Tour. Es war Nacht geworden; in der Dunkelheit verpassten wir zahlreiche Abzweigungen, suchten verzweifelt nach dem richtigen Weg, mussten nach Mitternacht einen Umweg machen, um an der letzten noch offenen Tankstelle wenigstens etwas Verpflegung zu bekommen, und kämpften uns bei Temperaturen um die 5 Grad durch einsamste, hügelige Strecken der Rhön bzw. des Spessart. Martin Kirschner, der wegen eines Unfalls nicht mitfahren konnte, hatte erzählt, dass er im Vorjahr nachts für ein, zwei Stunden in den Vorraum einer Bank geflüchtet war und sich zum Schlafen hingelegt hatte. Je kälter die Nacht wurde, umso attraktiver erschien mir diese Idee. Doch die Gegend war sooo gottverlassen, dass nicht einmal eine beleuchtete Telefonzelle, geschweige denn eine warme Sparkassenhalle zu entdecken war. Außerdem hätte eine solche Unterbrechung bedeutet, mich von der restlichen Gruppe zu trennen und die restlichen 250 Km alleine weiter zu fahren.

Zum Glück hatten wir telefonisch Kontakt mit Martin. Er musste bis abends um Zehn in einer norddeutschen Marmeladenfabrik Spätschicht schieben, stieg direkt nach der Arbeit ins Auto gen Süden und wollte gegen ½ fünf Uhr morgens in 36396 Steinau a. d. Straße mit Proviant auf uns warten. Welche Erlösung, als wir nach einer langen Abfahrt ins Tal der Kinzig, bei der die unbehandschuhten Finger fast einfroren, den Marktplatz des kleinen Kaffs erreichten, wo Martin ein Büffet mit Obst, Keksen, Apfel- und Orangensaft aufgebaut hatte – sogar eine Thermoskanne heißen Kaffees war da! In der allerdings noch längst nicht wärmenden Morgensonne versuchten wir, wieder etwas zu Kräften zu kommen, denn vor uns lagen nicht nur gut 200 Kilometer Radstrecke, sondern, unmittelbar hinter dem Ortsausgang, ein heftiger Anstieg Richtung Marjoss. Die anderen brachen bald auf; ich ließ sie alleine ziehen und setzt mich in Martins Auto, um meinen erschöpften Körper aufzuwärmen und ein wenig die Augen zuzumachen.

Gegen halb Sieben wachte ich auf, meinte, ich sei schon wieder fit und verabschiedete mich von Martin. Wenige Minuten später wurde mir jedoch schmerzhaft klar, dass ein unzureichend trainierter Körper nicht in der Lage ist, die Strapazen einer fast 24stündigen Radfahrt nur durch ein Stündchen Schlaf wegzustecken. Ich fluchte und kämpfte, konnte nicht glauben, dass die Straße in den Hessischen Spessart so steil und so lang hinaufführen würde. Als nach ca. einer Stunde der höchste Punkt erreicht war, fiel ich fast vom Rad. Der Kreislauf spielte verrückt und signalisierte nachdrücklich, dass ich eine weitere Pause einlegen müsste. Also das Rad in den Straßengraben gelegt, mich direkt daneben ins Gras gerollt, mit wenigen Kleidungsstücken notdürftig zugedeckt und eingeschlafen! Im Halbschlaf bekam ich verwundert mit, dass trotz der frühen Morgenstunde Unmengen von Radfahrern an mir vorbeirasten. Wie ich später erfuhr, fand just an jenem Tag dort ein Radrennen für Amateure statt.

Als ich nach zwei weiteren Stunden Schlaf – diesmal tatsächlich erholt – wieder aufs Rad stieg, entwickelte ich natürlich nicht den Ehrgeiz, das Tempo der RTF-Fahrer mitzugehen. Ich „wusste“, dass ich die restliche Strecke in den verbleibenden, maximal 13 Stunden „locker“ schaffen würde, und begann auf einmal, den 600er Brevet als Solo-Radtour zu genießen. Mittlerweile wärmte die Sonne, ich konnte ohne Druck der Gruppe mein eigenes Tempo fahren und erfreute mich an der wunderschönen Strecke, die über Jossa und Burgsinn hinab ins Maintal führte. Am Kontrollpunkt Gemünden wartete Martin noch einmal fürsorglich mit Verpflegung. Danach verabschiedeten wir uns: „Bis spätestens 20 Uhr in Gießen!“ Es folgte ein angenehmes, von leichtem Rückenwind unterstütztes Flachstück bis Lohr; dann ging es ein weiteres Mal in den Spessart, doch der lange Anstieg von Frammersbach zur Flörsbacher Höhe macht mir nun gar nichts mehr aus. Ich fuhr einfach nur so schnell, dass ich nicht außer Atem kam, und als es doch einmal zu anstrengend wurde, legte ich eine erneute Pause zum Trinken, Essen, Füße ausstrecken und Umziehen ein, denn mittlerweile war es richtig warm geworden. Stunde um Stunde, 20 Km um 20 Km, strebte ich so „gemütlich“ dem Ziel entgegen.

Gegen Mittag erreichte ich den nächsten Kontrollpunkt. Wir schrieben den 30. Juni: Das Finale der Fußballweltmeisterschaft Deutschland – Brasilien wollte ich mir nicht entgehen lassen. Also steuerte ich das erstbeste Gasthaus in Gelnhausen an, bestellte einen großen Teller Pasta, dazu ein Weizenbier, und verfolgte mit 50 einheimischen, schwarz-rot-gold-geschminkten Fans das Match. Leider bekam ich von dem Fußball nicht viel mit. Das Bier und das mächtige Essen wirkten spontan. Immer wieder sank der Kopf auf die Tischplatte. Wenn das Publikum vor Entsetzen oder Entzücken aufschrie, schreckte ich hoch, versuchte mich auf das Spielgeschehen zu konzentrieren, bis mich die Müdigkeit wieder übermannte. Mit bleischweren Augenlidern kämpfte ich bis zur Halbzeitpause gegen das Einschlafen an; dank eines starken Kaffee ging’s danach besser. Leider war der Fernseher mindestens acht Meter weit von meinem Tisch entfernt, so dass auch der Rest des Spiels nicht groß in Erinnerung blieb.

Unmittelbar vor dem Schlusspfiff überließ ich die Gelnhauser Fußballfans ihrer Enttäuschung und wendete mich wieder meinem eigenen Sport zu. Der Rest war Routine. Ein paar Mal verfahren; ein paar Mal über die nicht enden wollenden Steigungen geflucht; ein paar Mal Schwierigkeiten mit angetrunkenen, fahnenschwingenden Autofahrern bekommen; irgendwie die nominell 600, de facto ca. 630 Km zu Ende gebracht. 38 Stunden nach dem Start, abends um 20 Uhr, holte ich mir jedenfalls die wohlverdiente Medaille ab.

Am darauffolgenden Wochenende war noch der 300er nachzuholen, den ich im Rahmen der Fernfahrt Bern-Bodensee-Bern absolvierte. Das relative große Teilnehmerfeld, gut organisierte Verpflegungsstände und eine nicht besonders schwierige Strecke sorgen dafür, dass man dort deutlich bessere Zeiten als bei einem normalen Brevet fahren kann. Nach 13:35 h hatte ich die Strecke „im Sack“ und damit die Qualifikation für den RM 1200 endgültig geschafft.

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Bis Mitte Juli waren fast 5.000 Trainings- und Renn-Kilometer absolviert und ich konnte dem Ultra durch die Rocky Mountains mit Zuversicht entgegen blicken. Mein Konzept sah vor, die in maximal 90 h zu bewältigenden 1200 Km in vier Etappen einzuteilen. Die ersten 450 Km nonstop in max. 24 h, dann ca. 6 h schlafen. Tags drauf über hohe Pässe 330 Km in max. 18 h bis zur nächsten Übernachtung. Die dritte, 310 Km lange Etappe in ungefähr der gleichen Fahrzeit. Nach einer letzten Schlafpause wären es dann am Schlusstag nur noch 120 Km bzw. ca. 6 Stunden ins Ziel. Summa summarum hoffte ich so, brutto 86 h zu benötigen: 60 Stunden auf dem Sattel, 18 Stunden Schlaf plus 8 Stunden für Verpflegung und Sonstiges.

Am 20. Juli packte ich das Rennrad in einen Karton und flog nach Kamloops, eine ca. 80.000 Einwohner zählende Provinzstadt in British Columbia. Während sich in Deutschland bei Temperaturen um 10 – 15° die große Flutkatastrophe an Oder und Elbe anbahnte, herrschten in Kanada wolkenlose 32°, die bis zum Starttag sogar auf 37° klettern sollten. Nach zwei Tagen Akklimatisation und Bewältigung des Jet-lag wurde es ernst. Mittwoch Abend mussten die Startunterlagen abgeholt und die Räder überprüft werden; auf gut funktionierende Beleuchtung inklusive Ersatzbirnchen legte man besonderen Wert. Um 22 Uhr fiel der Startschuss, doch nur die Hälfte der insgesamt 80 Teilnehmer brach zur langen Fahrt durch die Nacht auf. Die anderen waren ehrgeiziger, wollen die Strecke unter 84 Stunden schaffen und durften bzw. mussten bis Donnerstag früh im Bett bleiben.

Vor dem Start in Kamloops

Zunächst bemühte ich mich, Anschluss an eine Gruppe zu halten, um ein wenig vom Windschatten zu profitieren und mir das Suchen zu erleichtern. Allerdings besteht beim RM 1200 – anders etwa als beim Klassiker Paris-Brest-Paris – nur selten Gefahr, sich zu verfahren, denn in den Weiten der Rocky Mountains ist man oft stundenlang unterwegs, bis man an der nächsten Kreuzung auf die Karte schauen und sich über die Fahrtrichtung informieren muss. Bald hatte sich das Teilnehmerfeld sortiert, und ich fand ein kleines Peloton, das ziemlich exakt mein Tempo von 25 km/h fuhr. Gemeinsam erreichten wir gegen 3:40 h den ersten Kontrollposten Clearwater (Km 134). Eine Viertelstunde Verpflegungspause genügte, dann nahm ich den nächsten Streckenabschnitt in Angriff. In der bald einsetzenden Dämmerung konnte man schon die Schönheit der kanadischen Wälder und Flüsse erahnen; nur die auf dem Highway mit Tempo 100 dahin donnernden Laster störten gelegentlich die Idylle. Nach gleichmäßiger Fahrt erreichte ich vormittags den zweiten Checkpoint Blue River – mit der Bruttozeit von 10:20 h für die 229 Km war ich bestens zufrieden.

Hinter Blue River

An sich wäre jetzt eine längere Ess- und Ruhepause angebracht gewesen, doch der Imbissraum der Tankstelle war ziemlich voll, und draußen konnte man es vor lauter Mückenschwärmen nicht aushalten. Also ging’s nach einem im Stehen verspeisten Sandwich, einer großen Cola und ein paar Bananen wieder auf’s Rad – immerhin war ja gerade mal die Hälfte der ersten Tagesetappe geschafft. In den folgenden Stunden brannte die Sonne heiß und heißer; zudem mussten wir Unmengen von Dreck und Staub einatmen, die Baufahrzeuge an einer schier endlosen Baustelle aufwirbelten. Gegen Mittag wurde ich todmüde, suchte ein schattiges Grasfleckchen am Straßenrand und wollte genüsslich die Augen schließen, als mich ein Mückenschwarm eines Besseren belehrte. „Auf’s Rad!“, schienen sie mir zu bedeuten, „Schlafen kannst du abends in Jasper!“

Also weiter durch die pralle Hitze Richtung Tete Jaune Cache! Obwohl ich bei der letzten Rast viel getrunken und beide 0,7 l Trinkflaschen gefüllt hatte, ging mir bald der Flüssigkeitsvorrat aus. Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, zumindest Wasser nachzutanken. Geschäfte, Restaurants, überhaupt Siedlungen sind in jener Gegend aber äußerst rar, und wenn man Pech hat, ist die nächste Tankstelle über Hundert Kilometer weit entfernt. Mit ausgetrockneter Kehle fand ich endlich abseits des Highways einen einsamen Campground; Gäste gab’s keine, doch wenigstens der Besitzer war da und zeigte mir den Wasserhahn. Am frühen Nachmittag traf ich an der nächsten Kontrollstelle (Km 339) ein; seit dem Start waren gut 16 Stunden vergangen; den erhofften Schnitt von brutto 20 km/h hatte ich also halten können.

Tete Jaune Cache Motel

Kurz hinter Tete Jaune wendet sich die Route nach Osten und wird allmählich bergiger. Ein erster giftiger Anstieg und später der langgezogene Yellowhead Pass (1130 m) gaben einen Vorgeschmack auf das, was uns in den folgenden Tagen bevorstehen sollte. Laut Angaben der Veranstalter sind insgesamt 7.800 Höhenmeter zu überwinden – nach subjektivem Eindruck mancher Randonneure deutlich mehr, vor allem wenn man die vielen typischen Wellen der „ebenen“ Abschnitte mitzählt.

Richtung JasperJasper Nationalpark

Das Hauptproblem gegen Ende des ersten Renntags waren freilich nicht die Berge, sondern die einsetzende Erschöpfung und Müdigkeit. Ohne Schlaf saßen wir nun 18 Stunden auf dem Rad, dazu kam die Hitze von mehr als 30°, kein Wunder also, dass mich in der Gegend von Km 400 das dringende Bedürfnis überkam, am Straßenrand ein Nickerchen zu machen. Doch die Ruhe währte nicht lange; dösend registrierte ich, dass eine Gruppe nach der anderen an mir vorbeifuhr, und das erinnerte mich daran, dass das Tagwerk noch nicht vollendet war: „Los, wieder rauf auf’s Rad, nur noch zwei Stunden bis Jasper!“ Mit leeren Trinkflaschen und ausgetrockneter Kehle kämpfte ich mich hoch zum Yellowstone Pass. Am Eingang zum Jasper Nationalpark mussten auch die Radler einen Obulus entrichten. Zum Glück hatte die Kassiererin in ihrem Häuschen einen großen Ballon mit gekühltem Trinkwasser, von dem wir uns großzügig bedienen durften. Erfrischt und durch einen schönen Rückenwind unterstützt eilten wir die letzten 20 Kilometer zum Etappenziel, wo nicht nur Essen und Trinken, sondern im nahegelegenen Schwimmbad auch Duschen angesagt war. Fazit des ersten Tages: 450 Km in 21 ½ Stunden; kein Wunder, dass ich in der Turnhalle auf meiner Therma-rest-Matte bald wie ein Bär eingeschlafen war.

Sicherheitshalber ließ ich mich um 3 Uhr wecken, denn beim Studium der Unterlagen hatte ich feststellen müssen, dass Kontrollschluss am nächsten Checkpoint bereits um 10:30 h war, und die 120 Kilometer dorthin hatten es in sich. Vor uns lag die Königsetappe der Tour, „nur“ 330 Km lang, aber mit dem Anstieg zum Sunwapta Pass (2035 m) und später zum Bow-Pass (2065 m) äußerst anspruchsvoll. Nach ausgiebigem Frühstück stieg ich in voller Montur aufs Rad. Es war dunkel, kühl und regnerisch. In den kommenden Stunden bedauerte ich sehr, nur Handschuhe in die Satteltaschen gepackt, die Neopren Überschuhe hingegen im heißen Kamloops zurückgelassen zu haben. Ein weiterer Mangel offenbarte sich Stunden später. Im Vorfeld hatten die Organisatoren betont, dass die kanadischen Rockies keine sonderlich schlimmen Steigungen aufweisen würden. Mit 8 und 10 % müsse man rechnen, mehr nicht. Deshalb hatte ich es nicht für nötig befunden, mein Rad auf eine spezielle Bergübersetzung umzurüsten. Doch am Fuße des Columbia Gletschers wartete ein echter Hammer. Auf einer Strecke von ca. einem Kilometer stieg die Straße derart steil an, dass ich trotz maximalem Krafteinsatz im Wiegetritt kaum vorwärts kam. Der Tacho ging von 8, 7 und 6 auf 5,5 km/h zurück. Um nicht vom Rad zu fallen, stieg ich schließlich ab und schob – die Steigung dürfte 16 - 18 % betragen haben.

Am Fuße ...und oben am Columbia Gletscher

Gegen 9:20 h erreichte ich das Columbia Icefields Center. Draußen wehte ein heftiger, kalter Wind; drinnen gab’s Säfte, Bananen und Kekse, und man konnte sich in den „Restrooms“ ein wenig aufwärmen. Doch bald mussten wir weiter. Hinter der Passhöhe folgte eine lange, ungefährliche Abfahrt. Während ich mit Tempo 75 „gemütlich“ herunterrollte, schoss von hinten ein aerodynamisch verkleidetes Liegerad vorbei. Später erfuhr ich, dass mit solchen Gefährten Spitzengeschwindigkeiten von über 100 km/h erzielt werden! Gegen Mittag wurde es wieder sonnig. In einer der ganz wenigen Gaststätten gönnte ich mir zum Essen eine Flasche Budweiser. Was für eine Abwechslung nach all den Säften und Süßgetränken der vergangenen Tage! Doch für diese kleine „Sünde“ musste ich bald büßen. Direkt nach Überquerung des Saskatchewan River beginnt der lange, anstrengende Anstieg zum Bow Pass. Ein überraschend starker Gegenwind, mittägliche Hitze und die durch die Wirkung des Bieres verstärkte Müdigkeit ließen mir keine Wahl: Ich musste mich in den Straßengraben legen und ein Nickerchen machen!

Die verlorene Zeit bedeutete zunächst kein großes Problem. Nach langer, einsamer Fahrt erreichte ich den Kontrollpunkt Lake Louise gut 2 ½ Stunden vor Zielschluss. Am Ortseingang kamen mir viele Randonneure entgegen, die noch das nächste 80 Km Teilstück in Angriff nahmen. Ich fühlte mich ziemlich erschöpft und hätte am liebsten eine richtige Schlafpause eingelegt, doch der Zeitplan legte es dringend nahe, am gleichen Abend bis Golden weiterzufahren. Sonst müsste ich gegen Mitternacht aufstehen und eine lange Nachtfahrt in Kauf nehmen. Also nur kurz die Beine ausstrecken, Essen und Trinken, und den anderen hinterherhetzen. Zum Glück erwies sich der Kicking Horse Pass (1645 m) als harmlos. Bei nun günstigem Wind kam ich gut voran und konnte zu den anderen Deutschen, Frieder, Karl und Winfried, aufschließen. Die letzten 20 Km auf dem nächtlichen, von zahlreichen Trucks befahrenen Highway # 1 waren jedoch sehr unangenehm. Im allgemeinen steht zwar den Radlern fast überall in Kanada ein separater Randstreifen zur Verfügung, doch wenn man in der Dunkelheit wegen Schlaglöchern, riesigen Reifenfetzen oder sonstigen Hindernissen plötzlich auf die Fahrbahn ausweichen muss, kann es zu brenzligen Begegnungen mit dem Schwerverkehr kommen. Jedenfalls atmeten Karl und ich tief durch, als wir gegen 22:30 h heil den hellerleuchteten Ortseingang von Golden erreichten. Wegen unzulänglicher Streckenbeschreibung mussten wir noch eine Weile suchen, fragen und fluchen, bis wir den Checkpoint (Km 760) gefunden hatten und uns mit einem Nachtmahl stärken konnten. Eiligst krochen wir in die Schlafsäcke, denn die Nacht war kurz.

Checkpoint Golden (Km 760)

Bereits um 3:00 h ließen wir uns wecken. Vor uns lag eine gut 300 Km lange, landschaftlich überaus reizvolle Etappe über Revelstoke und Salmon Arm nach Vernon. Beim ersten Morgenrot saßen wir wieder auf dem Rad. Malerisch hing der Mond am Himmel, und über den Flüssen und Seen lag Morgennebel, als wir Richtung Glacier Nationalpark aufbrachen.

Morgenstimmungim Glacier Nationalpark

Auf dem Weg zum ...Bow Pass

Immer wieder legte ich kleinere Photo-Stopps ein, genoss die abwechslungsreiche Landschaft im Herzen der Rocky Mountains und blickte dem letzten Pass optimistisch entgegen. Gegen 9 Uhr war die Höhe (1330 m) geschafft. Zur Stärkung gab es Bananen und Cola, und ein Posten machte uns Mut: „Bis zur nächsten Kontrolle geht’s 60 Kilometer nur noch bergab!“ Das war zwar irgendwo richtig, zugleich aber auch falsch, denn jenseits den Passes blies uns ein derart heftiger Wind ins Gesicht, dass von einem „Bergab“ praktisch nichts zu spüren war (900 Höhenmeter verteilt auf 60 Km entsprechen ja auch nur einem Gefälle von durchschnittlich 1,5 %). Der unerwartete Gegenwind, die steigende Hitze und immer heftiger werdende Sitzbeschwerden führten jedenfalls dazu, dass mir die „Abfahrt“ in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben ist.

Erschöpft traf ich um 13:50 h am Kontrollposten Revelstoke (Km 908) ein, flüchtete aus der prallen Sonne in die Turnhalle und schmiss mich auf eine Matte. Ich war sauer, hatte keine Lust mehr weiterfahren und konnte mir partout nicht vorstellen, wie ich die bevorstehenden 160 Kilometer bis Vernon durchhalten sollte. Nach kurzem Ausruhen, ausgiebigem Essen und Trinken sowie sorgfältiger Pflege der entzündeten Sitzpartien kehrte die Motivation aber allmählich zurück. Ich sah, dass es den anderen auch nicht viel besser ging, machte mir klar, dass ich noch gut im „Fahrplan“ lag und stieg gegen 15 Uhr wieder auf’s Rad. Zunächst einmal galt es, den gut 100 Km entfernten Checkpoint Salmon Arm zu erreichen. Der Wind hatte nachgelassen. Die Strecke führte durch ein hübsches Tal, vorbei an malerischen Seen, dem „Enchanted Forest“ und anderen Touristenattraktion. Bei Km 970 hieß es gut aufzupassen, denn plötzlich bog die Route auf kleinere Nebenstraßen ab. Die scheinbar klaren Anweisungen im „Roadbook“:

“971.2 Cambie – Solsqua Road; 

982.2 BLSW Cambie – Solsqua Road (over railway tracks)

983.1 RHighway # 1” 

waren alles andere als leicht zu befolgen. Die Angabe (Km) „971.2“ stellte nur eine grobe Orientierung dar, wo denn nun nach „R“(echts) Richtung „N“(ord) in die „Cambie – Solsqua Road“ abzubiegen wäre. Erstens wich der Kilometerstand auf meinem Tacho von der offiziellen Angabe mittlerweile um mehr als 20 Km ab. Zweitens war die gesuchte Abzweigung vom Veranstalter selbstverständlich nicht ausgeschildert – es handelte sich ja schließlich um ein Brevet! Drittens gab es an der Stelle kein Straßenschild, das einem die Sicherheit gegeben hätte, dass man sich tatsächlich auf der Road von Cambie nach Solsqua (oder erst nach Cambie und dann nach Solsqua?) befand. Ebenso schwierig in die Tat umzusetzen war die folgende Anweisung, bei Km 982.2 durch BL = „Bear Left“ von der „Cambie Solsqua Road“ über die „railway tracks“ Richtung S(üd)W(est) zu fahren. Jedenfalls war ich heilfroh, als ich nach längerem Suchen, erfolglosem Befragen zweier am Straßenrand spielender Kinder und ein paar kleineren Verfahrern endlich wieder den Highway # 1 sah.

Als nächstes erwarteten uns zahlreiche wellige Anstiege bis in die nicht enden wollenden Vororte von Salmon Arm (Km 1012). Nach den obligatorischen Erste-Hilfe-Maßnahmen (Trinken, Essen, Hintern-Eincremen) galt es, eine schwierige Entscheidung zu treffen. Es war Samstag 21:00 h, 19 Stunden vor dem definitiven Zielschluss im 200 Km entfernten Kamloops. Bei der ursprünglichen Planung hatte ich gehofft, schon 80 Km weiter zu sein, um dort eine richtige Schlafpause einzulegen. Doch nun lautete das Dilemma: Entweder in der gerade anbrechenden Nacht noch bis zur nächsten Kontrolle weiterzufahren, oder vor Ort eine Mini-Schlafpause einzulegen und irgendwann zwischen Mitternacht und 2 Uhr wieder aufzubrechen. Nach kurzer Diskussion entschloss ich mich zusammen mit Karl für die erste Option. Dem erschöpften Körper gefiel dies zwar überhaupt nicht, doch für den Kopf waren die Präferenzen klar: Lieber sich jetzt noch ein paar Stunden weiterquälen, um dann am Sonntag die verbleibenden 120 Km ohne Zeitdruck nach Hause fahren zu können. Erleichtert darüber, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, brachen wir eilig auf. Während des ersten, komplizierten Streckenabschnitts durch Salmon Arm Richtung Salmon River Road wollten wir noch ein wenig vom letzten, schwachen Tageslicht profitieren. Bis dahin war die Orientierung auf der Strecke eigentlich nie ein richtiges Problem gewesen. Wenn man hinter dem Ort erst einmal den nächsten Highway gefunden hatte, konnte man oft stundenlang geradeaus fahren, ohne sich um irgendwelche Abbiegungen oder Richtungswechsel kümmern zu müssen. So enthielt z.B. die Fahranweisung für die frühere 110 Km-Etappe von Blue River nach Tete Jaune nur drei Zeilen der Art: „CO(ntinue) N(orth) (auf dem) Highway # 5“. Der Zettel für die nächsten knapp 80 Kilometer umfasste hingegen ganze 26 Einträge, und die komplizierte, ja teilweise irrwitzige Straßenführung stellte uns im Verlaufe der kommenden Stunden vor fast ebenso viele Rätsel!

Der erste Patzer im Ort war noch nicht schlimm. Bei einer steilen Abfahrt hatten wir die kleine, unbeleuchtete „1st Street“ übersehen, in die laut Fahranweisung links abzubiegen war. Stattdessen landeten wir auf einer breiten Ausfallstraße, von der die gesuchte „5th Avenue“ jedoch leider nicht abbog. Also umkehren, den Hügel wieder hinauf, und im Teamwork (der erste schaut links, der andere rechts), die vermaledeite 1st Street finden. Ein Passant half uns schließlich weiter. Als wir gegen 22 Uhr die letzten Vororte der Stadt verlassen und die (natürlich nicht als solche ausgeschilderte) Salmon River Road erreicht hatten, glaubten wir uns aus dem Schneider. Doch die wirklichen Schwierigkeiten sollten erst beginnen. Obwohl Karls Rad über einen leistungsfähigen Nabendynamo verfügte und auch mein eigener Rollendynamo ausreichend starkes Licht produzierte, erwies es sich in der pechschwarzen Nacht als schwierig, den genauen Verlauf der winkligen Landstraße zu erkennen. Markierungen am Straßenrand existierten überhaupt nicht, und der schmutzig-gelbe Mittelstreifen bot nur eine schwache Orientierungshilfe, solange keine Autos entgegen kamen. Bei Gegenverkehr fuhr man oft ins Blinde. Zigmal mussten wir anhalten, mit der Taschenlampe die Fahrtanweisungen studieren, Straßen nach Schildern und Hinweisen absuchen. Und das Gelände hatte es zudem in sich. Der Name „Salmon River Road“ suggerierte, dass es sich um ein bequemes Sträßchen entlang eines Flusses handeln würde. In Wirklichkeit ging es aber kreuz und quer durch Felder und Wälder und zudem mit heftigen Steigungen auf und ab. Kurz vor Mitternacht gerieten wir in eine einsame Geheimkontrolle – Gelegenheit, mit dem Kontrollposten ein wenig zu plaudern und eine unverhoffte Extra-Verpflegung zu fassen. Nach langem Kampf kamen wir endlich gegen 3:00 h morgens in Vernon an. Für die letzten 78 Kilometer hatten wir statt der erwarteten 3 ½ Stunden sage und schreibe 5 ¾ Stunden benötigt!

Um nun noch ins Bett zu gehen, dazu war es eigentlich viel zu spät, denn wir wollten auf der Schlussetappe kein Risiko eingehen und deshalb gegen 6 Uhr wieder im Sattel sitzen! Doch nachdem wir ein paar Abendbrotreste verschlungen hatten, fielen uns am Tisch fast die Augen zu. Da war es doch sinnvoller, sich auf ein freies Lager zu legen. In kompletter Radkleidung war ich binnen weniger Sekunden eingeschlafen. Entsprechend gerädert fühlte ich mich, als um 5 h geweckt wurde. Das Mini-Frühstück wollte unter diesen Umständen nicht schmecken. Mechanisch stopfte ich Brot- und Bananenstückchen in den Mund, spülte alles mit Apfelsaft herunter und konnte mich nur mit dem Gedanken trösten, dass das Ziel ja bloß noch 120 Km entfernt war – in Kamloops würden wir für die Entbehrungen reichlich belohnt. Die ersten 20 Kilometer liefen prima. In der kleinen Gruppe mit Karl und Frieder herrschte eine gute, optimistische Stimmung. Doch bald begannen die finalen Strapazen. In der landschaftlich eher tristen Gegend um Falkland waren zwar keine Pässe mehr zu überwinden, doch längere Hügel gab es en masse. Dazu gesellte sich ein unangenehmer, kalter Gegenwind, gegen den wir verbissen ankämpften. Zum Glück fanden wir nach 50 Kilometern eine Gastwirtschaft, in der am frühen Sonntagmorgen ein kräftiges American Breakfast serviert wurde.

Gestärkt ging es wieder hinaus in den Gegenwind. „Nur noch 70 Kilometer“, versuchte ich mich zu trösten, doch dieser positive Gedanke hielt nicht lange an. Bald wurde er von Frustration und Erschöpfung verdrängt. Kilometer um Kilometer kämpfte ich mit Karl weiter gegen den Wind, einen Hügel nach dem anderen hinauf. „Das kann doch nicht wahr sein“, fluchten wir. Dem Höhendiagramm zufolge hätten wir den letzten Aufstieg schon längst hinter uns haben müssen, doch die erlösende Abfahrt ins Tal des Thomson River kam und kam nicht in Sicht. Erst bei Km 1175 öffnete sich das Gelände, und wir durften die in stundenlanger Anstrengung erarbeiteten 400 Höhenmeter in wenigen Minuten hinabrasen.

Jetzt trennten uns vom Ziel nur noch 25 Kilometer! Als Karl auf dem stark befahrenen, autobahnartigen Highway zu einer Art Endspurt ansetzte, musste ich ihn ziehen lassen, denn plötzlich fühlte ich mich völlig ausgetrocknet und kaputt. In der Eile des Aufbruchs in Vernon hatte ich es offenbar versäumt, meine Flaschen für die Schlussetappe richtig zu füllen. Auch beim Frühstück im Cafe hatte ich nicht daran gedacht, irgendwelche Getränke mitzunehmen. Zum Glück entdeckte ich an der nächsten Ausfahrt das Reklameschild eines Ladens, der auch sonntags geöffnet hatte. Nichts wie hin! Eine hastig hinunter geschüttete Cola löschte den Durst – die Erschöpfung und Müdigkeit vermochte sie freilich nicht zu vertreiben. So beschloss ich, die Finisherzeit Finisherzeit sein zu lassen und auf dem Rasen erst mal ein Stündchen zu schlafen. Ob 86, 87 oder 88 Stunden, was spielte das schon noch für eine Rolle! Kaum hatte ich die müden Beine ausgestreckt, als mich jedoch ein anderes, dringendes Bedürfnis wieder hochriss. Die Cola bzw. der morgendliche Cafe bzw. sonst ein Getränk musste unbedingt raus!

Nun sind Randonneure im allgemeinen nicht sehr heikel, wenn es darum geht, ein kleines Geschäft zu verrichten. Doch der einzige sozial verträgliche Platz war mindestens 200 Meter vom Garden Center entfernt, viel zu weit, um eben mal rüberzulaufen und dann zum designierten Lagerplatz zurückzukehren. Also mit dem Fahrrad dorthin! Nachdem ich nun unfreiwillig doch wieder auf den Beinen war, entschied ich mich kurzerhand um, ließ die Pause Pause sein und nahm das lästige Reststück in Angriff. Nach insgesamt 86:40 h erreichte ich so das Ziel im Riverside Park von Kamloops. Der Empfang durch ein paar Zuschauer und Mitstreiter war klein, aber herzlich. Karl wartete mit einer Cola; jemand vom Organisations-Komitee konnte sogar meinen Wunsch nach einem Bier befriedigen. Bald schob ich mein Rad zur Jugendherberge und steuerte als erstes die sanitären Anlagen auf. Zu meiner Freude entdeckte ich neben den Duschen eine Badewanne, die ich eiligst mit heißem Wasser füllte. Die wunden Stellen am Gesäß protestierten zwar heftig, doch die Schmerzen ließen bald nach und ich konnte wohlig entspannen. Allmählich machte sich Freude breit, Stolz und Zufriedenheit darüber, dass ich die große Herausforderung geschafft hatte.

Zurück in Kamloops

Als Nachtrag ein paar Zahlen. Beim RM 1200 gingen (solo oder auf einem Tandem) 69 Männer und 9 Frauen an den Start; 68 Personen erreichten im Limit das Ziel. Sieger wurde der junge Österreicher Othmar Altmann mit einer neuen Streckenbestzeit von 52:02 h; schnellste Solo-Frau war Nancy Pauw in 65:32 h!

(Kommentare willkommen an den Autor; wer neugierig geworden ist, findet hier zu seiner Homepage.