BRIEFE AN DIE SZ | Samstag, 8. April 2000 |
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Beschnittenes Wahlrecht des Bürgers
Kommunen in NRW dürfen stärker mitbestimmen / SZ vom 24. März
Jürgen Kahl berichtet über den Gesetzentwurf der Regierungsparteien in Nordrhein-Westfalen zur Novellierung der Gemeindeordnung. Der Entwurf sieht vor, dass während einer laufenden Legislaturperiode des Gemeinde- oder Stadtrates der nach einem vorzeitigen Ausscheiden des Amtsinhabers nachgewählte (Ober-)Bürgermeister für die Zeit bis zum Ende der nächsten Wahlperiode, also für maximal bis zu zehn Jahre, gewählt wird. Mit dieser Regelung, die erstmals in Köln für die Nachfolge Harry Blums angewendet wird, folgt Nordrhein-Westfalen dem Beispiel Niedersachsens (siehe Paragraf 61, Absatz 3, Nummer 3 Niedersächsische Gemeindeordnung).
Derlei Vorschriften begegnen indes gravierenden Bedenken im Hinblick auf das Demokratieprinzip und das subjektive Wahlrecht des einzelnen Bürgers. Er wird für lange Zeit von der Ausübung seines Wahlrechts abgeschnitten. In typischen Studentenstädten kann es – bei zügigem Studienverlauf – häufig vorkommen, dass das Stadtoberhaupt von weiten Teilen der – studentischen – Bürgerschaft überhaupt nicht (mehr) gewählt werden kann. Gleiches gilt angesichts der verstärkten Bevölkerungsfluktuation für viele heutzutage überaus „mobile“ Bürger. Ihnen allen wird so von vornherein die Chance genommen, bei der Auswahl des maßgeblichen Stadtrepräsentanten mitzuwirken.
Die auf bis zu zehn Jahre verlängerte Wahlperiode stellt dabei nicht etwa nur eine begrenzte Ausnahmeregelung dar. Das Beispiel Niedersachsens zeigt, dass eine Nachwahl durchaus häufig vorkommen kann. Der für so lange Zeit gewählte Amtsinhaber kann die gesamte Verwaltung über seine Personalpolitik nach eigenem Gutdünken gestalten. Ihm kommt für lange Zeit eine (allzu) große Machtfülle zu. Eine Abwahl ist nur unter erschwerten Bedingungen möglich, die kaum einmal erfüllt werden dürften. Die niedersächsische und die geplante nordrhein-westfälische Regelung sind in der Bundesrepublik ohne Vorbild. Für alle ansonsten in direkter Wahl zu vergebenden Ämter sind überwiegend weitaus kürzere Amtszeiten vorgesehen.
Eine gerichtliche Klärung der Frage, wie lange die Amtsdauer eines direkt gewählten (Ober-)Bürgermeisters dauern darf, steht noch aus. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Beantwortung dieser Frage den Gerichten, vor allem Verfassungsgerichten, der Länder überantwortet (siehe BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1998 – Aktenzeichen: 2 BvR 69/98).
Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat entschieden, dass der einzelne Bürger die fragliche Bestimmung – trotz des Abschneidens seines subjektiven Wahlrechts – vor den Verwaltungsgerichten nicht rügen kann, weil er damit angeblich nur einen objektiv-rechtlichen Verfassungsverstoß geltend mache und eine entsprechende Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 18. Januar 2000 – Aktenzeichen: 1 A 111/97) wird. Eine Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg steht dazu noch aus. Sollte die Entscheidung aus Osnabrück tatsächlich Bestand haben, befindet man sich hier in einem rechtsschutzfreien Raum.
Es bleibt aber zu hoffen, dass diese für die Demokratie auf kommunaler Ebene und darüber hinaus wichtige Frage endlich einmal eine verbindliche Antwort erhält, die Demokratieprinzip und subjektives Wahlrecht wirklich ernst nimmt. Unabhängig von der juristischen Beurteilung passt die nordrhein-westfälische Regelung gerade angesichts der gegenwärtigen Diskussion um die Beschränkung der Wiederwahl politischer Mandatsträger jedenfalls nicht in die aktuelle politische Landschaft.
Peter Szczekalla, Osnabrück
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